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442–447). Stattdessen schlägt Habermas vor, zu untersuchen, wie die Lebenswelt und das System in der sozialen Evolution wechselseitig aufeinander wirken. Er beweist den Satz, dass die kommunikative Rationalisierung der Lebenswelt, die sich in der Modifikation des moralisch-rechtlichen Bewusstseins zeigt, die Bedingungen für das Entstehen von institutionellen Mechanismen (das Verwandschaftssystem, die politische Macht und das formale Recht) in der symbolischen Organisation der Gesellschaft schafft, die in der Lebenswelt ein neues evolutionäres Niveau der Komplexität und der Organisiertheit des sozialen Systems verankerten, was neue Prozesse der sozialen Differenzierungen hervorbrachte und eine neue diesen entsprechende gesellschaftliche Ausprägung entstehen ließ. Jürgen Habermas unterscheidet drei gesellschaftliche Formationen, die in der Geschichte aufeinander folgen: die Stammes-, die staatsorganisierte und die kapitalistische Gesellschaft (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 234–277). Die komplexe Definition der Gesellschaft, die er dabei vorschlägt, lautet wie folgt: „Die Gesellschaft ist systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“ (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 228).

Die logische Folge aus den methodologischen Grundlagen der Konzeption der sozialen Evolution von Habermas ist seine „kritische Theorie der Gegenwart“, d.h. die Theorie der heutigen Entwicklungsstufe der westlichen Zivilisation – das Stadium der „Spätkapitalistischen Gesellschaft“, mit der dafür spezifischen sozialen Marktwirtschaft und dem Sozialstaat. Die soziale Struktur der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt ist vom institutionellen Mechanismus des formalen Rechts geprägt. Dank diesem Mechanismus entwickeln sich „formal-organisierte Handlungssphären“, deren Elemente die kapitalistischen Organisationen und die Staatsämter sind. Das Kriterium des sozialen Status des Menschen in der Epoche des Kapitalismus ist sein funktioneller Beitrag zur Tätigkeit irgendeiner Organisation. Das formale Recht schafft die Bedingungen für die Subsysteme, dank denen sie sich nicht nur von den lebensweltlichen Zusammenhängen lösen, sondern umgekehrt Einfluss auf diese ausüben, mit dem Ziel der Mobilisierung ihrer Ressourcen für die Erfüllung der Aufgaben der Subsysteme (z.B. des ökonomischen Aufschwungs). Die Lebenswelt antwortet auf diesen äußeren Einfluss so, dass sich zwei Bereiche in ihrer Struktur herausbilden, die im indirekten Austausch mit den Subsystemen stehen – der private Bereich und der Bereich der Öffentlichkeit. In jedem von diesen Bereichen entstehen besondere soziale Rollen – die des Arbeiters und des Konsumenten im privaten Bereich, die des Klienten und des Staatsbürgers im Bereich der Öffentlichkeit. Die erste von diesen Rollen lässt die Einwirkung der Medien der Systemregulierung in den entsprechenden Bereichen zu – das Geld und die Macht; den Inhalt der zweiten wird durch den universellen Prozess der kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt bestimmt. Für den klassischen Kapitalismus war ein starkes Ungleichgewicht

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zwischen den Rollen des Arbeiters und des Konsumenten charakteristisch – nicht nur in dem Sinne, dass diese Rollen ungleichmäßig zwischen verschiedenen Personen verteilt waren, sondern auch in dem Sinne, dass die Lebenswelt der Lohnarbeiter vom Zustand des ökonomischen Subsystems stark abhängig war. Auf der heutigen Stufe der „spätkapitalistischen Gesellschaft“ wird dieses Ungleichgewicht durch Maßnahmen des Sozialstaates ausgeglichen, aber zum Preis neuer starker Disproportionen zwischen den Rollen des Klienten und des Staatsbürgers. Einerseits wird der Raum für die persönliche Initiative bei den Klienten immer mehr verengt, d.h. sie werden immer weniger fähig, ihre Probleme selbständig und durch das Streben nach gegenseitiger Verständigung zu lösen. Andererseits wird der Inhalt der Rolle des Staatsbürgers immer abstrakter, und den Personen bleiben immer weniger Möglichkeiten, auf Entscheidungen der staatlichen Politik Einfluss zu nehmen. Außerdem geschieht ein gefährlicher Prozess der „Verarmung“ der kulturellen Tradition in der Lebenswelt selbst, der zur Fragmentarisierung des Weltver-ständnisses der Personen, zu Krisenerscheinungen im Bereich der sozialen Integration wegen der Konflikte zwischen verschiedenen Wertorientierungen und zu Störungen im Sozialisationsprozess führt. Wenn auf der Stufe des klassischen Kapitalismus das ökonomische Subsystem einen verzerrenden Einfluss auf die Lebenswelt ausübte, dann tun das heute das ökonomische und das administrative Subsystem in ihrer unauflösbaren Verflechtung (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 509–547).

Ein konkretes Programm des Handelns der Öffentlichkeit zur Überwindung dieser „sozialen Pathologien“ schlägt Habermas nicht vor, um nicht in einen Utopismus zu verfallen, er skizziert nur die Aufgaben einer weiteren Ausarbeitung der Theorie des kommunikativen Handelns im Bereich der sozial-humanitären Erkenntnis. Diese Theorie soll insbesondere das Wesen des Prozesses der Verdinglichung aufzeigen, der dazu führt, dass die Handlungsorientierungen der Akteure in den ökonomischen und politischen Subsystemen immer mehr an normativen Inhalten einbüßen und so diese Akteure beginnen, sich gegenseitig nur als Mittel für das Erreichen ihrer ausschließlich pragmatischen Zwecke zu benutzen (hinter denen eigentlich die Imperative der Selbsterhaltung und der Steigerung der Komplexität der Subsysteme stecken). Die Lösung dieser Aufgaben wird zur Überwindung der Störungen der freien Entfaltung des Potentials der kommunikativen Vernunft in all ihren Dimensionen – der kognitiv-instrumentalen, der moralisch-praktischen und der ästhetisch-expressiven – beitragen (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 584– 593).

In diesem Zusammenhang erscheint es nicht als zufällig, dass Habermas sein Werk mit Bemerkungen zu einem Dialog zwischen Vertretern der verschiedenen kulturellen Traditionen beendet. In einem solchem Dialog verstehen die Menschen im Westen, was sie im Prozess der gesellschaftlichen

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Rationalisierung verlernt haben: so können sie noch nicht realisierte Möglichkeiten der westlichen Variante gesellschaftlicher Rationalisierung einsehen (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 588).

Habermas schreibt zum Abschluß seines Werkes, dass die Kategorie des kommunikativen Handelns eine Abstraktion ist, die ihren reifen Inhalt nur in der Bestimmtheit der heutigen historischen Situation gewinnt: Auf der einen Seite wird die kommunikative Vernunft in den neuen Formen des Umgangs im privaten und im öffentlichen Bereich der Lebenswelt der westlichen Zivilisation immer stärker praktisch wirksam, und auf der anderen Seite stehen die Interventionen der Subsysteme, die sich im Kontext dieses indirekten Umgangs der Personen miteinander verselbständigt haben, unter der Bedrohung der symbolischen Reproduktion der Gesellschaft insgesamt. Und weil die kommunikative Theorie der Vernunft als das Ergebnis dialektischer Widersprüche in sich selbst entstanden ist, besteht das höchste Ziel dieser Theorie darin, dass sie, indem sie das kritisch-reflexive Erfassen der Wirklichkeit ermöglicht, auch zu dieser gehören können soll (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 593).

Somit führt die dialektische Rekonstruktion der kommunikativen Theorie der Vernunft zur Idee von der praktischen Verwirklichung dieser Theorie, aber nicht im Sinne des revolutionären Abbruches der Wirklichkeit, sondern im Sinne einer „Entwicklungshilfe“ des der Wirklichkeit immanenten Veränderungspotentials. Die Idee des Dialogs zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen stellt sich für uns als die aussichtsreichste für die kreative Weiterentwicklung der Theorie von Habermas dar. Wir können uns in diesem Zusammenhang als geistige Erben der russischen kulturellen Tradition betrachten. Das Spezifische dieser Tradition liegt darin, dass gerade die Problematik der Sittlichkeit in unserer Tradition als zentral für die Existenz der Person und für die Gesellschaftsordnung erachtet wird (Zenkovskij, Vasilij (1955), p. 6); Moralität gründet sich aber nicht nur auf die praktische Vernunft, sondern auch auf die Liebe als Kraft, die die Verwandlung der menschlichen Gattung herbeiführen kann, bis zur Veränderung von als unveränderlich angesehenen anthropologischen Konstanten (wie Vladimir Solowjöw geschrieben hat, ist die echte Liebe jene Kraft, die die Unsterblichkeit schafft) (Solowjöw, Vladimir (1985)). Unsere Philosophie erlaubt, eine der fundamentalen christlichen Ideen zu aktualisieren: Die echte Überwindung der Verdinglichung ist als die Überwindung des Egoismus möglich, und die echte Überwindung des Egoismus kommt vom Erwachen der Liebe im Menschen, die nicht nur auf ihre erotische Form reduziert werden kann, sondern auch universal ist – die Liebe als Agape. Deswegen sehen wir als eine der aussichtsreichsten Themen zukünftiger komparatistischer Untersuchungen den Vergleich der deutschen Idee der Intersubjektivität mit der russischen Idee der moralischen Solidarität (sobornost‘) an.

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2. ZUR KOMMUNIKATIVEN THEORIE DER VERNUNFT VON JÜRGEN HABERMAS: VERSUCH EINER KRITISCHEN KONTEXTUALISIERUNG AUFGRUND DER RUSSISCHEN PHILOSOPHISCHEN TRADITION

In dem vorliegenden Kapitel wird der Versuch unternommen, Ideen von Jürgen Habermas mit einigen Ideen russischer Denker zu vergleichen, die russische soziokulturelle Erfahrungen ausgedrückt haben. Einerseits wird das zur Kritik an einigen Sätzen von Habermas führen, andererseits wird diese Kritik nicht vom Streben zur Widerlegung der entsprechenden Sätze geleitet, sondern vom Bemühen zur Auffindung von Möglichkeiten für eine schöpferische Weiterentwicklung. Die Philosophie von Habermas enthält dazu viele Ansatzpunkte. Als ein Beispiel sei aus dem Werk „Theorie des kommunikativen Handelns“ (TKH) die Reflexion über die Notwendigkeit des Dialoges zwischen Vertretern verschiedener kultureller Traditionen erwähnt. In einem solchem Dialog können die Menschen im Westen verstehen, was sie im Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung verlernt haben: So können sie noch nicht realisierte Möglichkeiten der westlichen Variante gesellschaftlicher Rationalisierung einsehen und durch die Interpretation der Erfahrungen) anderer Kulturen aktualisieren (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 588).

In diesem Kapitel sollen drei Themen behandelt werden, die einige Anstöße für die weitere Entwicklung der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns (TKH) geben können: die formal-pragmatische Analyse der Sprache (1), die Analyse der Tendenzen der gesellschaftlicher Rationalisierung in der Moderne (2) sowie die Analyse der Prozesse der Abkoppelung des Systems von der Lebenswelt und der Ergebnisse dieses Prozesses (3).

Ad (1). Im ersten Fall wird die Spezifik des kommunikativen Gebrauchs der russischen Sprache unter dem Aspekt betrachtet, wie dort Beziehungen des Sprechers zu den drei Welten sich äußern, die Habermas in der „TKH“ analysiert hat: der objektiven, der sozialen und der subjektiven Welt. Dabei wird gezeigt, dass einige russische Äußerungen zugleich zwei Welten zugerechnet werden können, was die Schärfe der Ausdifferenzierung ihrer Geltungsansprüche in Zweifel zieht. Obwohl diese Analyse destruktive Folgen zu haben scheint – eines ihrer Ergebnisse ist der Zweifel am „performativen Widerspruch“ im Standpunkt des „Skeptikers“ (wenn er sagt: „Ich bezweifle, dass ich existiere“) – so kann sie uns dennoch den Weg zur weiteren Begründung des Inhaltes der ästhetisch-expressiven Form der kommunikativen Vernunft aufzeigen. So wird hier vorschlagen, durch die Einbeziehung der Ideen von Michail Bachtin

(1895–1975), eine neue kommunikative Rolle des Spielers einzuführen, was uns neue Möglichkeiten eröffnet, mit Hilfe der Analyse der Praxis des Karnevals,

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die moralisch-praktische Dimension der kommunikativen Vernunft mit der ästhetisch-expressiven Dimension zu vermitteln.

Ad (2). Im zweiten Fall wird anhand der Theorie der soziokulturellen Dynamik von Pitirim Sorokin (1889–1968) gezeigt, dass die gesellschaftliche Rationalisierung in der Epoche der Moderne eine andere Tendenz demonstriert – nicht in Richtung der postkonventionellen Form des moralisch-rechtlichen Bewusstseins, wie bei Habermas, sondern in der sich im „soziokulturellen System“ durchgesetzt habenden Orientierung auf sinnliche und leibliche Genüsse. Einerseits erlaubt Sorokins Theorie eine andere und einfachere Erklärung des Unvollendetseins der Evolution des moralischen Bewusstseins der Mehrheit moderner Menschen (sie befinden sich, entsprechend der Terminologie von Lawrence Kohlberg, im Zwischenstadium „4,5“) (Habermas, 1991 b, S. 197–199). Andererseits eröffnet Sorokins Theorie eine Möglichkeit, neue Orientierungen der gesellschaftlichen Rationalisierung aus dem moralischen und kreativen Potential der religiös-metaphysischen Traditionen vorzuschlagen, die nicht in Vergessenheit geraten sind, sondern heute wieder belebt werden. Auf diesem Weg lässt sich ein neuer Adressat der kritischen Theorie erschließen.

Ad (3). Im dritten Fall wird, aufgrund der Theorie von Alexander Sinowjew (1922–2006), eine andere als die westliche, nämlich die russische Variante der Entwicklung des gesellschaftlichen Systems in der Moderne betrachtet: Von der Lebenswelt hat sich vor allem das administrative Subsystem des gesellschaftlichen Systems abgekoppelt und das ökonomischen Subsystem dessen Logik untergeordnet (im Westen war es bekanntlich umgekehrt). Die „Kolonisierung“ der Lebenswelt hat dabei eine andere Form angenommen – die der Verbreitung des „kommunalen Handelns“ als Haupttätigkeit. So kann die Theorie des kommunalen Handelns von Sinowjew die Handlungstheorie von Habermas ergänzen, die zweckrationales, strategisches, normenreguliertes und dramaturgisches Handeln einschließt. Zweitens schlägt Sinowjew eine neue Erklärung des Globalisierungsprozesses vor, aufgrund der Idee, dass sich im Westen während des „Kalten Krieges“ eine „globale Übergesellschaft“ zu entwickeln begonnen hat; wir können die Theorie der „Übergesellschaft“ als eine Fortsetzung der Analyse des Gesellschaftssystem von Habermas betrachten, weil sie dem Ausweg der Evolution der westlichen Gesellschaftssysteme auf ein globales Niveau Rechnung trägt, was Habermas nicht gemacht hat und weswegen er heute kritisiert wird. Auf diese Weise können wir eine sozialphilosophische Bekräftigung der Ideen über die Notwendigkeit der anderen Variante der Globalisierung in der heutigen Epoche geben, jener Ideen, die Philosophen in den letzten Jahren, gestützt auf die Philosophie Immanuel Kants, vertreten. So eröffnet sich eine Möglichkeit, die kritische Theorie auf globale soziale Prozesse anzuwenden.

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Diese drei thematischen Komplexe bilden einen inhaltlichen Zusammenhang, wobei die Sprachanalyse, die Rationalisierungstheorie und die Analyse der Gesellschaft als eine Einheit des Systems und der Lebenswelt drei Bausteine von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns darstellen: Aus der Sprachanalyse folgt die Beschreibung von Tendenzen der kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt. Doch im Verlauf dieser Rationalisierung bildet sich ein gesellschaftliches System heraus und beginnt umgekehrt, die Lebenswelt zu kolonisieren; so kann diese Vorwegnahme des Zustandes der vollständig rationalisierten Lebenswelt eine Grundlage für die Kritik der einseitigen Systemrationalität vorschlagen und so zur kritischen Theorie des „Spätkapitalismus“ beitragen. Wenn der Autor des vorliegenden Beitrags versucht, diese Probleme der Theorie von Habermas anders zu interpretieren, dann kommt er zu anderen Schlussfolgerungen, wodurch es ihm hoffentlich gelingt, die Habermas’sche Analyse zu aktualisieren und sie für die heutige Entwicklungsetappe der Weltgesellschaft zu beleuchten.

Abschließend wird in diesem Beitrag eine Kritik der Ideen der russischen Denker skizziert, und es werden einige Gedanken über mögliche Transformationen dieser Ideen geäußert, um sie von ihrer Einseitigkeit zu befreien und in die Tradition der kritischen Theorie einzubeziehen.

(1) Betrachten wir zunächst die formal-pragmatische Analyse der Sprache. Laut Habermas enthält die Struktur der Sprache, außer der propositionellen Komponente, eine illokutionäre Komponente, in der sich Ansprüche der Aussagen auf intersubjektive Geltung ausdrücken. Der Sprecher soll diese Geltungsansprüche durch Angabe vernünftiger Begründungen seiner Position (d.h. durch Argumente) bestätigen, um den Hörer von der Wahrheit, der Richtigkeit oder der Wahrhaftigkeit seiner Position zu überzeugen (das hängt davon ab, welchen Geltungsanspruch der Hörer in Zweifel zieht). Somit ist die Rationalität der Aussagen durch ihr Begründetsein bestimmt, die im Diskurs zum Ausdruck kommt (die Begriffe „Diskurs“ und „Argumentation“ sind bei Habermas verwandt, aber nicht gleichbedeutend: Diskurse sind universale und reflexive Formen der Argumentation, vgl. Habermas, 1987, Bd. 1, S. 65–71).

Es handelt sich darum, ob die Geltungsansprüche nur drei sind und wie streng sie gegenseitig ausdifferenziert werden können. Auf die erste Frage antwortet Habermas durch die Bezugnahme auf die Theorie der drei Welten von Karl Popper und durch die Begründung, dass die Subjekte durch ihre Handlungen jeweils Beziehungen mit einer dieser Welten eingehen. Für die Handlungen ist der Plan, die virtuelle Verwirklichung der Tätigkeit im Bewusstsein des Aktors konstitutiv, und die Pläne verschiedenen Aktoren sind vorrangig symbolisch strukturiert in dem Sinne, dass die intersubjektive Sprache eine bestimmte Beschreibung der Welt ergibt, die Regeln bietet, nach denen sich

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die Erzeugung der Inhalte vollzieht. In dieser Hinsicht trägt jede Tätigkeit das intersubjektive Moment in sich – es ist in jeder Zielsetzung anwesend (Habermas, 1987, Bd. 1, S. 144–148).

Wenn die grammatikalische Struktur der Sprache eine klare Differenzierung der Welten erlaubt, mit denen die Akteure zunächst symbolische und im weiteren körperlich-materielle Beziehungen eingehen, dann kann sich im Bewusstsein der Akteure das „dezentrierte Weltverständnis“ herausbilden, d.h. eine klare Struktur, in deren symbolischen Inhalten diese drei Welten streng voneinander getrennt sind, und in jedem konkreten Fall werden zwischen ihnen komplexe Beziehungen hergestellt (Habermas, 1987, Bd. 1, S. 104–107). Wenn aber die Sprache durch ihre konstitutiven Regeln, Inhalte hervorzubringen, ein Modell der Verflechtung der verschiedenen Welten bietet, dann tritt der Sprecher durch seine Äußerungen in Beziehungen zu mehr als nur einer Welt ein, und zwar in einer nicht differenzierten und nicht differenzierbaren Synthese der symbolischen Inhalte dieser Welten. In der Sprache schlägt sich die kollektive Erfahrung eines Volkes nieder; und wenn die Menschen, im Vergleich zur westlichen Wirklichkeit, unter objektiv anderen Bedingungen leben, dann unterscheiden sich auch die das symbolisches Universum erzeugenden Regeln ihrer Sprache von denen, die für westliche Sprachen gelten.

Eine der Bedingungen der Anwendbarkeit des formal-pragmatischen Modells im Habermas’schen Sinn ist das Vorhandensein einer klar differenzierten Struktur der subjekt-prädikativen Beziehungen in der Sprache. Das setzt die strenge Trennung des Subjekts vom Objekt im logischen Sinn voraus, wie das in den germanischen Sprachen – so im Deutschen und im Englischen – festzustellen ist. Dabei ist der Status des Personalpronomens „ich“ wichtig: das „Ich“ weist auf die innere Welt des Sprechers hin, zu der er einen privilegierten Zugang hat, und wenn dieses Pronomen im abhängigen Kasus steht, gibt es zugleich zu erkennen, dass der Sprecher ein Vertreter seiner Gemeinschaft ist, der intersubjektive Beziehungen mit den anderen „Ichs“ eingeht, und dass er die diese Beziehungen regelnden Normen internalisiert hat. Auf diese zwei für den Sprecher fundamentalen Beziehungen – zu seiner eigener Welt, die mit den anderen inneren Welten nicht identisch ist, und zu der intersubjektiven Welt anderer Ichs – verweist der Gebrauch dieses Pronomens in der direkten Form und in der Form des abhängigen Kasus („I“ und „Me“, in G.H. Meads Terminologie) (Habermas, 1988 b, S. 217–228, besonders S. 219– 220; Habermas, 1987, Bd. 2,

S. 66–68, 147–155, 161–163).

Hier wird gezeigt, dass in der russischen Sprache andere Möglichkeiten der Beziehungen zwischen „I“ und „Me“ vorhanden sind, die ihre strenge

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Trennung (d.h. strenge Differenzierung zwischen subjektiver und intersubjektiver Welt) nicht voraussetzt (a), außerdem gibt es noch die Möglichkeit, in solche Beziehungen zur objektiven Welt einzutreten, dass diese Welt an den innerer Welt des Sprechers und der Sprecher seinerseits an der Natur beteiligt wird (b).

Ad (a). Zum ersten Fall gehören die Äußerungen eines wichtigen Typs, die den sozialen Status der Person in der Gesellschaft charakterisieren – es geht um die sozialen Beziehungen des Eigentums. Das Recht auf Eigentum ist eines der fundamentalen privaten Rechte, und das Vorhandensein von Eigentum gibt den Individuen Möglichkeiten, in den sozialen Zusammenhängen eine „negative Freiheit“ (A. Honneth) zu erlangen, d.h. Möglichkeiten der Selbstsuche und der Verwirklichung des eigenen Potentials, ohne dabei von anderen abhängig zu sein (Honneth, 2011, siehe auch: Habermas, 1994, S. 481–482).

So verweist die Wurzel des Wortes „Eigentum“ im Deutschen auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Eigentum und der qualitativen Bestimmtheit des Menschen (Eigentum und Eigenschaft). In der russischen Sprache sind in diesem Wort vor allem negative Inhalte (im logischen Sinn) vorhanden: Eigentum ist etwas, was den Menschen zu einem besonderen, von den anderen isolierten, aber nicht qualitativ bestimmten (darüber schweigt die Sprache) Wesen («собственность» und «собь-») macht. Warum das so ist, erklärt die Sprache in den Äußerungen, die den Zustand des Besitzes beschreiben. Im Deutschen und Englischen werden das Subjekt, der Besitzer des Eigentums, und das Prädikat, d.h. das besitzanzeigende Objekt, streng fixiert (z.B.: „Ich habe ein Haus“, “I have a house”); die entsprechende russische Äußerungen sind vom Standpunkt der formalen Logik paradox («У меня есть дом», diesen Satz kann man buchstäblich übersetzen als: „Bei mir gibt es ein Haus“), also sind das Subjekt und das Prädikat nicht scharf voneinander getrennt. Das bedeutet nicht, dass die Russen verwechseln, was wem gehört: das Haus dem Menschen oder der Mensch dem Haus; es geht hier eher darum, dass sich eine jahrhundertealte gesellschaftliche Lebenserfahrung des Volkes in der russischen Sprache widerspiegelt, in der der faktische Besitz von Eigentums, der den (nur die Überleben ermöglichenden) Lebensstandard der übrigen Bevölkerung übertrifft, als eines der wichtigsten Statusmerkmale der Staatsbürokratie galt. Dabei hing die Eigentumsgröße von der Position der Person in der Hierarchie der Dienste innerhalb der Staatsbürokratie ab; dementsprechend verfügte das Individuum über ein solches Eigentum, solange es dieser Gemeinschaft angehörte. Damit setzt eine strenge Ausdifferenzierung in der Sprache der individuellen und der sozialen Welt einen langen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess voraus, der zur Herausbildung des individuellen Bewusstseins führt, wodurch das Individuum eine Stütze in einer vom Staat unabhängigen bürgerlichen Gesellschaft finden kann. Wenn dieser

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Prozess unvollendet ist, dann kann der Sprecher sich nicht vollständig als ein vom Willen der Staatsbürokratie unabhängiges Wesen verstehen, weil er nur wenige Möglichkeiten hat, Eigentum ohne die Gönnerschaft der Bürokratievertreter zu erwerben. So geht er in seinen sprachlichen Äußerungen über das Eigentum Beziehungen sowohl zur subjektiven als auch zur sozialen Welt ein, wenn er sich in den abhängigen Kasus (statt an die Stelle des Subjekts) stellt1.

Dieser Sachverhalt hat noch eine andere Folge: Wenn der Sprecher diese zwei Welten nicht streng trennt, dann verhält er sich in der Kommunikation nicht nur als der Träger des subjektiven Standpunktes, sondern auch als ein Vertreter der besonderen Gemeinschaft. Als Ergebnis können die Normen der institutionalisierten Kommunikation und die Normen der kommunikativen Vernunft „in reiner Gestalt“, die die „illokutionäre Bindungskräfte“ der Sprechakte voraussetzen, nur mühsam voneinander getrennt werden (vgl. Habermas, 1987,

Bd. 1. S. 404–406). So wird die Realisierung der Norm „ich sage, was ich meine“ kompliziert, weil der Sprecher sich nur als Träger einer bestimmten sozialen Rolle in der Gesellschaft versteht; im umgekehrten Fall wird er als eine potentielle Quelle des Anarchismus wahrgenommen, und an seinem Standpunkt zeigt niemand Interesse.

Das letzte gilt für die Weltanschauung der russischer „Intelligenzija“, deren Vertreter (entweder wegen ihren geistigen Entwicklung oder weil sie ihre Bildung im Westen erfahren und unter dem Einfluss des langen Aufenthaltes in der anderen sozialen und kulturellen Umwelt ihren sozialen „Habitus“ geändert haben) in einem Zustand der „Staatsfremdheit“ – „der Entfremdung vom und der Feindseligkeit gegen den Staat“ – geraten: Ihr Standpunkt wird weder von den Vertretern der Staatsbürokratie (aus Angst um ihre Machtposition), noch vom Volk wahrgenommen (Struve, 1990, S. 256). Diese Lage wurde von vielen russischen Denkern analysiert, darunter auch von Alexander Sinowjew (2003 b). Die Wahl, von der in diesem Zusammenhang der russische Intellektuelle steht, wurde von dem Philosophen Semjon Frank (1877–1950) sehr gut beschrieben: Er kann entweder die Rolle des Explosionsfaktors spielen – d.h. das Volk zum

1

Eine ausführliche Analyse der für die russische Staatsbürokratie konstitutiven Verflech-

 

 

tung der Macht und des Eigentums kann man im Buch finden, das für die moderne

 

russische Sozialwissenschaft zu einem Klassiker geworden ist: Makarenko, Viktor (1998).

 

S. 3, 170–171, 175–177, 180–181, 185, 207–208, 216–218, 246–247, 284–286, 310, 326,

 

339–340. Diese Verflechtung ist nicht nur ein russisches Phänomen, sie läßt sich auch in

 

der gegenwärtigen Gesellschaft Lateinamerikas beobachten. Deshalb schließt Viktor

 

Makarenko sein Buch mit der Beschreibung der Alternative: Entweder wird es Russland

 

in einem langsamen und mühsamen Prozess gelingen, diese Verflechtung aufzubrechen,

 

oder die Ereignisse der letzten Jahre lassen die sich in der russischen Geschichte schon

 

häufenden Zusammenhänge nur wiederaufleben (Makarenko, Viktor 1998, S. 445).

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Sturz der Macht der Bürokratien durch das Schüren niedriger Leidenschaften (Hass, Neid usw.) veranlassen, oder er kann die in der russischen Tradition vorhandenen, von der westlichen Moral unterschiedenen sittlichen Normen finden (unterschiedene in dem Sinne, dass eine letzte Grundlage der Sittlichkeit nicht Individualismus, sondern Solidarität beinhalten kann), und, diesen Normen folgend, durch sein gerechtes Leben und sein Schaffen, zum allmählichen moralischen Fortschritt der Gesellschaft im Ganzen beitragen1.

Ad (b). In der russischen Sprache gibt es auch Äußerungen, mit deren Hilfe der Sprecher gleichzeitig in Beziehung mit zwei Welten tritt – mit seiner eigenen subjektiven Welt und mit der Welt der Natur. Sie haben auch einen paradoxen Status, weil in ihnen ein Rest des mythologischen Bewusstseins geblieben ist, in dessen Rahmen das Ich mit der Natur verflochten ist, so dass innere Zustände des Subjekts mit den Prozessen in der natürlichen Welt in Resonanz stehen. Es gibt in der deutschen Sprache Äußerungen, die auch einige Merkmale der Angehörigkeit zu beiden Welten – der subjektiven und der objektiven – besitzen, z.B.: „es scheint mir, dass (p)“; aber man kann diese Äußerung als den Ausdruck der Unsicherheit des Sprechers bezüglich der Wahrheit seines Standpunktes interpretieren, deshalb kann das Subjekt dem existentiellen Status des Sachverhaltes, über den das propositionale Element des Sprechaktes etwas aussagt, keine klare Bestimmung geben: Der Sprecher ist unsicher, ob der jeweilige Sachverhalt der äußeren oder nur seiner innerer Welt angehört. In der russischen Sprache sind absolut analoge Sätze vorhanden, aber es gibt auch Konstruktionen, die vom logischen Standpunkt aus paradox sind, z.B.: «мне хочется» – „es will mir“, wenn wir diesen Satz buchstäblich ins Deutsche übersetzen. Man kann hier nicht eindeutig verstehen, wenn wir von der grammatischen Form dieses Satzes ausgehen, zu welcher Welt hier der Wille gehört – zur äußeren, zur inneren oder zu beiden zugleich. Daraus lässt sich nicht schließen, dass die russische Sprache das sprachliche Subjekt zwingt, in sich das Weltverständnis zu bilden, wie in der Philosophie von Arthur Schopenhauer, demzufolge es einen Weltwillen gibt, der die individuellen Willen bestimmt, so dass Individuen nur Erscheinungen („Objektivationen“) dieses Weltwillens sind. Der russische Sprecher kann ohne Probleme das propositionelle Element des Sprechaktes auf sich selbst beziehen und verstehen, dass er es ist, der will (und kein Weltwille durch ihn „will“), und in der russischen Sprache gibt es auch eine alternative Möglichkeit für die Aussage „ich will“, in einer mit dem Deutschen und Englischen absolut identischen

1

Frank, 1990. Siehe auch: Ehlen, 2009, S. 105–123 („Das Transzendieren zum Du.

 

 

Das Sein ist Wir-Sein. Die Grundform der Offenbarung“), besonders S. 108–111 („Die

 

Evidenz der Du-Realität“), 117–119 („Das Wir-Sein ist grenzenlos, überzeitlich,

 

überindividuell“), auch S. 154–155 („Das Transzendieren auf das an sich Sinnvolle und

 

Objektive in der Liebe“).

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